Kurzgeschichte

Herbstsonne

Vertont im Dezember 2014 von 1001 Buch im Literarischen Adventskalender

Veröffentlicht 2017 in "Herzbuch Glücksmomente" Eine Anthologie gefüllt mit Glücksmomenten aus dem Elbverlag (Seite 76)

 

Gerade spielt es den Redemptionsong von Bob Marley. Sie wippt mit dem Kopf im Rhythmus der Musik. Der Kopfhörer gibt ihr das Gefühl von Privatsphäre mitten im Park. Neben ihr sitzt ihre Schwester. Auf einer Bank. In ein Buch vertieft. Seit Kurzem machen sie öfter etwas gemeinsam.

 

Bestimmt gibt es nicht mehr viele solcher warmen Sonnenstunden, bevor die kalten Tage kommen, geht es ihr durch den Kopf. Sie genießt es, endlich wieder ins Freie zu kommen. Den Wind auf ihren Wangen zu spüren.

 

Man braucht schon eine warme Jacke und einen Schal. Und eine Decke über die Beine. Spaziergänger sind unterwegs. Einige mit Hund. Kinder laufen herum. Ein küssendes Pärchen sitzt auf einer anderen Parkbank. Zwei Männer joggen. Eine junge Frau mit Kinderwagen, geht langsam vorbei. Nach vorne gebeugt, redet und lacht sie hinein.

 

Mia lächelt.

 

Vor ihr am Boden bunte Herbstblätter. Rot, orange, gelb. In allen Schattierungen und Größen. Der Wind wirbelt sie herum. Es sieht aus, als würden sie für sie tanzen. Im Rhythmus der  Musik. Bewegen sich in Gruppen. Abseits ein einzelnes Blatt. Stoppen kurz. Nur um sofort wieder weiter zu machen. Faszinierend, denkt sie. Eine perfekte Choreografie.

 

Sie erinnert sich an eine Tanzstunde, wo sie zu dem Lied von Bob Marley getanzt hatte. Dieser Song hatte es ihr damals angetan. Wochenlang hatte sie ihn zu Hause gehört. Immer wieder Teile der Choreografie in ihrem Zimmer wiederholt. Oder sich frei dazu bewegt. Tanzen gehörte damals fix zu ihrem Leben. Alle Gedanken abstellen. Den Körper spüren. Musik, Bewegung, Rhythmus. Sie seufzt. Es kommt ihr vor, als wäre das vor einer Ewigkeit gewesen.

 

Die Blätter tanzen immer noch vor ihr am Weg. Sie leuchten in der Sonne. Früher wäre ihr nicht in den Sinn gekommen, wie schön der Herbst sein kann. Für tanzende Herbstblätter hatte sie keine Zeit. Und die warmen Strahlen der Herbstsonne waren ihr egal gewesen. .

 

Sie spürt, wie ihre Schwester den Kopfhörer von ihrem rechten Ohr wegzieht: „Was ist los, du seufzt schon wieder?“ Aus den Gedanken gerissen lächelt Mia sie an: „Alles ok. Ich hab nur gerade an früher gedacht. Gib bitte den Kopfhörer runter und dreh ab.“ „Magst du einen Tee zu Hause?“, fragt ihre Schwester. „Ja. Los! Wer schneller daheim ist!“ Das war früher einmal ihr Lieblingsspiel.

 

Ihr rechter Zeigefinger drückt auf den Knopf. Der Rollstuhl setzt sich in Bewegung. Ihre Schwester läuft ein paar Schritte vor und wirbelt einmal um sie herum. Sie lachen beide herzhaft.