Erzählung

Ich und Kopfstand

Nichts Besonderes. Turnunterricht. Für mich ungefähr zweimal pro Woche das Gefühl des Versagens. Schmach und Qual über viele Jahre. Die Taue unüberwindbar. Das Reck ein Horror. Nach einem Sprung über den Kasten der Besuch im Krankenhaus. Der Knöchel schmerzhaft, geschwollen und blau. Nur Verstaucht.

 

Volleyball konnte ich Positiv ins Erwachsenenleben hinüber retten. Alle anderen Ballspiele bedeuteten, man musste warten, bis man hoffentlich gewählt wurde und nicht am Ende noch dastand, um von der Mannschaft gnadenhalber mit Seufzern und verdrehten Augen genommen werden zu müssen. Ich konnte weder scharf genug schießen, noch gut fangen.

 

Drei Jahre nach der Matura begann ich zu tanzen. Endlich erfüllte ich mir einen Wunsch, der fünfzehn Jahre unerfüllt geblieben war. Ballett, Jazz, Afro, Modern, Partnering, Improvisation, Contemporary,…

 

Die Erkenntnis kam schnell: „Die haben einfach das Falsche gemacht im Turnunterricht!“

 

Mein Körper war gar nicht so unbrauchbar, wie ich es bis dahin empfunden hatte. Ich konnte nach kurzer Zeit einen Spagat. Sehr erstrebenswert damals. Aber auch sonst ist mein Körper bis heute wunderbar Dehnbar und immer noch bekomme ich dafür Anerkennung. Auch die erforderliche Koordination und Merkfähigkeit für Choreografien zeigte sich schnell. Ich war in meinem Element angekommen. Ich konnte gar nicht genug bekommen. Wagte mich weiter in Fortgeschrittenenkurse. An Ehrgeiz hatte es mir noch nie gemangelt. Auch hier wurde er deutlich.

 

Sommertanzwochen vor ziemlich genau 25 Jahren. Carlos Orta, ein toller Choreograf aus Venezuela. Eine Woche lang sollten wir eine Chorografie erlernen. Meine TanzkollegInnen kamen aus aller Welt und Tanzlevel. Ok, das stimmt nicht ganz. Die Meisten waren besser,  gingen in eine Tanzausbildung oder waren schon Profis. Carlos machte klar, dass nur diejenigen bei der Abschlusspräsentation am Sonntag mitmachen könnten, die die Choreografie wirklich gut können. Ich fand es etwas unverschämt, dass ich mich überhaupt in diesen Kurs wagte. Aber ich wollte. Unbedingt. Es mir beweisen. Den anderen beweisen. Wir starteten.  Eine Modern Contemporary Choreografie mit langsamen, fließenden Bewegungen. Ein Stil, den ich bis heute liebe. Dann mittendrin ein Kopfstand. Ich stutzte. Ok, das war´s, mein erster Gedanke. Ich und Kopfstand? Nie und nimmer. Noch nie gekonnt.  Unmöglich… Ich will aber.

 

Eine Woche, stundenlang außerhalb der Tanzeinheit, übe ich Kopfstand. Er muss flüssig in der Choreografie eingebaut gelingen. Gleichzeitig mit den Anderen. Ich übe und übe und übe.

 

Für die Präsentation werden ca. 12 Tänzerinnen und Tänzer ausgewählt. Beim Auftritt sind wir alle weiß gekleidet. Es gibt Beweisfotos, die ich wohl bei der letzten Übersiedelung besonders gut verpackt habe. Auch ohne Fotos, vergesse ich diese Woche und diesen Sonntag niemals. Dieser Stolz. Diese Freude.

 

Tanzen blieb meine Leidenschaft. Die Angst vor Choreografien mit, auch nur leichten, akrobatischen Elementen, wie ansetzen zum Handstand oder ähnliches, blieb bestehen.

 

Ungefähr fünfzehn Jahre später. Ich beginne mit Yoga. Im ersten Semester viele Glücksmomenten. Es fällt mir Großteils leicht. Im zweiten Semester sollen wir beginnen, uns den Kopfstand zu erarbeiten. Ich versuche es. Spüre sofort meine Verkrampfung. Die Tränen beginnen zu kullern.  Die restlichen 50 Minuten sitze ich auch meiner Yogamatte, kann sie nicht stoppen, möchte im Erdboden versinken. Meine ganze Scham, wie im Turnunterricht, zu versagen, überfällt mich. Ich gehe nie wieder zu einer Yogastunde. Ich bin sicher, der Lehrer wollte mich beruhigen, dass ich auch gar keinen Kopfstand machen müsste. Nützte nichts. Es war tief in mir!

 

Ich tanze weiterhin. Mogle mich soweit wie möglich um alle akrobatischen Elemente. Schön langsam wird meine Ausrede „in meinem Alter kann ich das nicht mehr so“. Die meisten sind ja nun jünger als ich. Die anderen kann ich damit vielleicht beschwindeln. Mich selbst nicht.

 

Vor drei Monaten gehe ich zu einem Alternativmediziner zum Aderlass. Nach dem Motto: „Schaden kann es ja nicht.“ Eine Freundin organisiert das bei sich zu Hause mit anschließendem gemeinsamem Frühstück. Der Arzt fragt mich zwischendurch, in welchem Gang ich derzeit lebe, im 3. oder 4. Ich lache und meine, eher im 5. Du musst zurückschalten. Kauf dir das Buch „Trainieren wie im Knast“, ich mache das gerade mit meinem 14-jährigem Sohn. Er ist einige Jahre älter als ich und kein Mann vieler Worte. Die Frühstücksrunde lacht, als ich davon erzähle. Niemand hat noch davon gehört, nur mir hat er dieses Buch empfohlen. Nach einigen Tagen denke ich wieder daran. Wundere mich. Der hatte mich doch gesehen, mit all meinem Übergewicht (15 Jahre und mindestens soviele Diäten hatten dazu geführt. Seit  10 Jahren verweigere ich jegliche Diät. Aber das ist eine andere Geschichte.). Der Titel und seine Empfehlung machen mich neugierig. Ich kaufe es.

 

Am Cover: 6 Übungen, die alles aus ihnen rausholen. Mit dem eigenen Körpergewicht. Auf engstem Raum durchführbar. Beim Lesen stelle ich fest, es ist spannend, interessant und gut aufgebaut. Es spricht mich an. Sechs Übungen denen man sich mit kleinen Schritten nähert. Eine der sechs Übungen, der Handstand. Mein Hirn beginnt zu rattern. Ich muss ja nicht alle Übungen machen. Jede Übung ist mehr als nichts. Wer sollte mich denn zwingen…

 

Aber dann lese ich genauer nach. Kopfstand ja, aber an der Wand. Aha, dann muss ich vielleicht nicht soviel Angst haben. Ich wage es. Es klappt. Ein erster Erfolg. Dann taucht plötzlich die Angst um meine instabile Halswirbelsäule auf. Was, wenn mein Gewicht zuviel ist und ich mir mehr schade, als der Kopfstand bringt? Fast möchte ich es wieder lassen, da fällt mir die Kopfstand-Geschichte von damals bei Carlos Orta ein und die Art, wie wir den Kopfstand gemacht haben. Auf den Unterarmen aufgestützt und die verschränkten Finger, die zusätzlich den Kopf abstützen. Ja, und jetzt klappt es entspannt. Mehrmals die Woche, mittlerweile bis zu zwei Minuten, kann ich am Kopf stehen. Die Wand hinter mir. Manchmal berührt nur noch eine Ferse ganz schwach die Wand und für ein paar Sekunden dürfen sich auch bereits beide Fersen lösen.

 

Von den sechs Übungen ist der Kopfstand beinahe meine Lieblingsübung geworden. Ich bemerke, es bewirkt etwas. Nicht nur körperlich. Es tut auch der Seele gut!